Freerk Huisken zum Amoklauf von Tim K. in Winnenden

So wird es wohl kein Zufall sein, wenn alle hierzulande zu unrühmlichen Ehren gelangten Amokläufer eine bzw. ihre Schule aufsuchen und dort ein Blutbad an Schülern und Lehrern anrichten. Weder haben diese Jugendlichen in der Fußgängerzone, noch bei einer Sportveranstaltung oder im Kaufhaus um sich geballert. Sie haben ganz bewusst diesen Tatort gewählt und die dort arbeitenden Schüler und Lehrer, oftmals ohne sie zu kennen, als Repräsentanten einer Institution umgebracht, die sie als verletzenden Angriff auf ihre Persönlichkeit, wenn nicht gar auf ihre personelle Existenz erfahren haben. Das muss man ernst nehmen und sollte es nicht als rein subjektive Deutung eines kranken Verstandes abbuchen, die mit der Wirklichkeit der Schule nichts zu tun hat. Was ist denn die wirkliche Schule? Sie ist zum einen eine Lernkonkurrenzveranstaltung, in der Lehrer über zukünftige Lebenschancen junger Menschen befinden, und auf die Schüler zum anderen heute ganz selbsttätig eine Anerkennungskonkurrenz drauf satteln, die manchen Schülern wichtiger ist als die gute Zensur in jener Konkurrenz, die allein zählt – nicht selten, weil sie mit der ohnehin schon abgeschlossen haben.

Die eine Konkurrenz, das ist die schulisch inszenierte Leistungskonkurrenz, in der der nationale Nachwuchs nach Elite und Masse durchsortiert wird, sprich: in seiner Mehrzahl von weiterführender Bildung und d.h. von weniger unerfreulichen Berufen ausgeschlossen wird; eine Konkurrenz, deren Protagonisten wissen, warum sie am Jahresende anlässlich der Zeugnisvergabe pädagogische Seelsorge anbieten und hoffen, dass sich keiner ihrer Schüler das Leben nimmt, weil er sich „mit dem Zeugnis“ nicht nach Hause traut; eine Lernkonkurrenz, in der sich Schüler immer zugleich das Rüstzeug fürs ganz normale Durchwursteln in der sich anschließenden Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und im Berufsleben aneignen: Denn sie erfahren, dass sie nur dann nicht zu den Verlierern gehören, wenn sie dazu beitragen, andere zu Verlierern zu machen, was Anschwärzen ebenso einschließt, wie Neid und Missgunst; wenn sie dem „Schein“ den Vorrang über ihr „Sein“ geben, also Können vortäuschen, andere der Täuschung überführen und was der weiteren Tugenden des gar nicht so „heimlichen Lehrplans“ der Konkurrenz mehr sind. Schüler selbst ergänzen heutzutage diese Leistungskonkurrenz, deren Zwecken sie sich unterwerfen müssen, deren Mittel – dabei handelt es sich nicht um das Lernen, sondern das zensierte Lernen – sie gar nicht in der Hand haben und deren Resultaten sie ohnmächtig gegenüber stehen, um eine eigene, eben die Anerkennungskonkurrenz. In der führen sie sich als die Herren ihrer Konkurrenzmittel auf: Alle rohen Formen der Angeberei und des Mobbing – geschlechtsspezifisch sortiert – stehen dabei hoch im Kurs. Da wird geklaut und erpresst, geschlagen und ausgegrenzt, werden Schulen demoliert und Mutproben der brutalsten Art abverlangt. Gelernt haben die Kids, dass der Mensch ohne Selbstbewusstsein nichts ist, dass man also mit einer Portion Selbstbewusstsein die Zumutungen von Schule, Familie und Straße besser aushält – und nur deswegen ist das Selbstbewusstsein zum Erziehungsziel avanciert. Und das übersetzen sie sich in den Selbstbefund, irgendwie „Superstar“ zu sein, wenn nicht der „Deutschlands“, dann doch wenigstens der der Schule oder der Klasse. Der Anerkennungswahn, der sich hier austobt, erweist sich als ein Psycho-Produkt von Konkurrenzerfahrungen, das inzwischen das Privatleben derart okkupiert hat, dass jede vernünftige Bilanzierung des materiellen Gehalts einer individuellen Lebenslage nur allzu oft überlagert wird von der Frage, wie viel Beifall man für neue Klamotten, geschwollenen Bizeps, Sexual- und Saufleistungen, nebst Frech- und Rohheiten aller Art von Mitmenschen erhält, die denselben anerzogenen und inzwischen durchgesetzten geistigen Deformationen anhängen. Wenn zudem heute Schüler mit 9 oder 10 Jahren ihre Schulhefte auf Lehrergeheiß mit dem Spruch „Ich bin wertvoll!“ zieren – das fällt sachgemäß unter Ethik-Erziehung – , dann darf man sich endgültig nicht wundern, dass dabei der eine oder andere Robert S. oder Tim K. herauskommt. Denn wo in Schule, Familie und Umfeld vermehrt Erfahrungen gemacht werden, die diesen Spruch gerade nicht mit Material unterfüttern, wenn Niederlagen dieser oder jener Art sich vielmehr zu Frust verdichten, dann lässt er sich ebenso in die selbstzerstörerische Frage: „Bin ich wirklich wertvoll?“, wie auch in den fremdzerstörerischen Beschluss: „Denen werde ich es zeigen, dass ich wertvoll bin!“, umsetzen. Es schließt eben die radikalisierte Sorge ums eigene Selbstbewusstsein durchaus beide brutalen Verlaufsformen ein: die Tötung und die Selbsttötung.

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Neu ist das alles nicht, aber heftiger wird’s schon. Weswegen es erneut nicht verwundern darf, dass Menschen, deren Kopf randvoll ist mit unbewältigten Lebens- und Anerkennungsproblemen, diese solange mit sich selbst ausmachen, bis sie meinen, der Welt auf jene Weise Beweise für ihren erfundenen Selbstwerts zeigen zu müssen, die sie von der Welt gelernt haben: als Machtausübung mit den Mitteln der Gewalt!

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