Toni Arnold
Die Zivilgesellschaft und die kritische Theorie
Kommentar zu einem Grundlagentext des Frankfurter Instituts für Sozialforschung im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg
„Zur Entwicklung einer zivilgesellschaftlichen politischen Kultur in Deutschland“
aus: Forschungsarbeiten des IFS
Bestialität und Humanität unter Habermas versus
Was der Mensch tun sollte, aber nicht tut von Michael Jäger
Aus historischen Gründen wird das Frankfurter Institut für Sozialforschung oft mit kritischer Theorie assoziiert. Insofern kritische Theorie sowohl auf die Erkenntnis als auch auf die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zielt, kann festgestellt werden, dass beides am genannten Institut eher dementiert denn praktiziert wird.
In einem zweiten Teil versuche ich anhand der Habermas/Jäger-Kontroverse um Kant und Kosovo zu zeigen, dass wir es hier mit der „kritischen Theorie unter Habermas“ zu tun haben, die inzwischen unverzichtbarer funktionaler Bestandteil des militärisch-industriellen Komplexes geworden ist.
Eine später hinzugekommene Ergänzung namens Habermas und das System behandelt etwas genauer Habermas‘ Theoriekonzeption in Hinblick auf das genannte Thema.
Der offenbar 1997 verfasste programmatische Text des Frankfurter Instituts für Sozialforschung beginnt mit der Feststellung, dass sich am Institut personell etwas geändert hat. Ein von Helmut Dubiel, Adalbert Evers, Ludwig v. Friedeburg, Ute Gerhard, Axel Honneth und Wilhelm Schumm vorgelegtes Arbeitsprogramm legt die zukünftige Ausrichtung der empirischen Forschung des Instituts fest. Es bringt die „Wiederaufnahme sozialpolitischer, feministischer und psychoanalytischer Fragestellungen“ auf der Basis von „Konzepten der Zivilgesellschaft, der Anerkennung und der Erinnerungskultur“.
Darin weist die Zivilgesellschaft „auf den Prozeß der demokratischen Revolution“ hin, der seit dem 18. Jh. in kapitalistischen Gesellschaften festgestellt werden könne. In dieser „demokratischen Republik“ lebt und wirkt der „gleichberechtigte“ „Aktivbürger“ in „selbstorganisierten Aktivitäten und Assoziationen.“ Dieser bildet den „Volkssouverän“ und „symbolisiert“ sich als „plurales Wir“. Die Republik selbst konstituiert einen „öffentlichen Raum der Meinungs- und Willensbildung“. Die „Einheit“ und „Einhegung“ der Republik wird „symbolisiert“ durch die Verfassung.
Die „Stelle der souveränen Macht“ bleibt „leer“, weil das Volk „plural symbolisiert“ wird und „friedlich“, also „zivil“ Argumente austauscht, sich „wechselseitig überzeugt“, zu „beschlussfähigen Mehrheiten“ kommt und damit ihre „divergierenden Interessenlagen“ in Einklang bringt.
Der Staat wird in diesem Zusammenhang ex negativo bestimmt, jedenfalls müssen „die zivilgesellschaftlichen Akteure“, also die „ihre Kommunikationsrechte wahrnehmenden“ gleichberechtigten Aktivbürger, darauf verzichten, den „Ort des Staates einzunehmen“. Als Beispiele für solch ungehöriges Tun wird ein „fixierter Wertekanon im Sinne der freiheitlich demokratischen Wertordnung“ und eine „Revolution im Namen einer bestimmten sozialen Gruppe“ genannt, was einer „Usurpation und einer Blockierung des öffentlichen Raums“ gleichkomme.
Die vorher im 18. Jahrhundert verortete schon fast rührend kitschig geschilderte bürgerliche Demokratieideologie jenseits aller strukturellen Zwänge wird anschliessend plötzlich in den „neuen sozialen Bewegungen“ verortet. Es wurde untersucht, ob „die großen überregionalen Zeitungen die Themen, Akteure und Protestformen der sozialen Bewegungen argumentativ ernst nahmen und sie in den öffentlichen Raum inkludierten“ – ein seltsamer Widerspruch zum zuvor gemalten Aktivbürger, der die Öffentlichkeit durch Wahrnehmung seiner Rechte konstituiert und nun doch durch die grossen Medienkonzerne repräsentiert wird. Immerhin wird festgestellt, dass die „massenmediale Öffentlichkeit“ zu Anti-AKW- und Anti-Flughafen-Bewegung gespalten und polarisiert blieb, die Einleitung des Textes also eher utopisch-normativen denn deskriptiven Charakter für sich in Anspruch nehmen kann.
Es wurde auch die Textproduktion der Bewegungen selbst untersucht, zum Beispiel hinsichtlich der Frage, ob auch „Akteure wie Polizei oder Regierung und deren Praktiken als Teil einer zivilgesellschaftlichen Kooperation zwischen gleichen Bürgern begriffen wurden“, was wenig erstaunlicherweise nicht der Fall war. Dies wird als „eigenartig institutionalistisch fixiertes Politikverständnis“ gedeutet. In den folgenden Jahren wurden jedoch die „institutionellen Akteure“ als „politisch Gleiche“ anerkannt – wo doch vorher dieselben Institutionen den Staat konstituierten, dessen Ort die politisch Gleichen gerade nicht einnehmen sollten.
Bedauernd wird festgestellt, dass die moderne Gesellschaft immer noch metaphysische Legitimationen des Staates benutzt, die neuen sozialen Bewegungen also noch nicht vollständig zur Legitimation des bürgerlichen Rechtsstaates funktionalisiert sind. Die moralischen Grundlagen werden noch nicht ausschliesslich diskursiv von den grossen Medienkonzernen – oder, im besprochenen Text synonym, vom gleichberechtigten Aktivbürger – gesetzt.
Obwohl auf Jürgen Habermas nicht explizit Bezug genommen wird, repräsentiert dieser Text die bürgerliche Wende in Habermas‘ Theoriearbeit, wie sie z.B. im 2. Vorwort zu seinem Best- und Longseller „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ verbreitet wird (zur Neuauflage 1990).
In diesem 1962 erschienen Buch konstatiert Habermas einen Verfall der bürgerlichen Öffentlichkeit mit dem Ergebnis, dass dieses in der Moderne substanzlos gewordene bürgerliche Ideal zur Legitimation der modernen Demokratie nicht mehr taugt. Im 2. Vorwort legt Habermas „die normativen Grundlagen der kritischen Gesellschaftstheorie tiefer“ (S.34) und kommt damit zu optimistischen Ergebnissen für den bürgerlichen Staat. Tenor: alles halb so schlimm.
Zentral ist die Einführung des Konzeptes von System und Lebenswelt. „Ökonomie und Staatsapparat“ sind „systemisch integrierte Handlungsbereiche, die nicht mehr von innen demokratisch umgestaltet, d.h. auf einen politischen Integrationsmodus umgestellt werden könnten, ohne in ihrem systemischen Eigensinn beschädigt und damit in ihrer Funktionsfähigkeit gestört werden.“ (S. 36) Im Klartext: Normative Forderungen nach Demokratisierung von Ökonomie und Staatsapparat sind nach Habermas a priori irrational, unmodern, veraltet. Die Demokratie findet in der Zivilgesellschaft statt.
Dieses Programm widerspiegelt sich im Text des Frankfurter Instituts: Der Ort des Staates liegt ausserhalb der zuerst lebensweltlich organisierten, empirisch dann aber doch durch die die systemisch-ökonomisch integrierten Massenmedien repräsentierten Zivilgesellschaft. Das Konzept der Kolonialisierung der Lebenswelt erweist sich als äusserst flexibel: Einmal ist die Öffentlichkeit Lebenswelt, einmal System, einmal ist der Staat System und dann doch wieder plural und lebensweltlich symbolisiert, je nach argumentativem Bedarf. Der logische Widerspruch ist in der Theorie von System und Lebenswelt kein sporadischer Unfall, sondern das eigentliche Prinzip der Ideologie: Die inneren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft werden damit gegen Kritik immunisiert.
George Orwell hat in seinem bekannten Werk „1984“ beschrieben, wie der moderne Totalitarismus sich eine eigene Sprache – „new speak“ oder dt. „Neusprech“ – schafft, welche durch ihre innere Beschaffenheit jeden Widerspruch unmöglich macht. Habermas verwirklicht dieses totalitäre Projekt in seiner kommunikativen Praxis, das Frankfurter Institut für Sozialforschung institutionalisiert die Lüge in seinen Forschungsprogrammen.
Deutlich zeigt sich Habermas‘ Meisterschaft in solchen Taschenspielertricks in seinem Text zur Legitimation des Nato-Angriffskrieges gegen Jugoslawien. Eingangs stellt er fest: die zivile BRD führe „Krieg“, nenne ihn jedoch propagandistisch „Luftschläge“. Gleichzeitig lobt Habermas die „glasklare normative Sprache“ der Agenten des Krieges wie auch der Kriegsgegner. Habermas Gesinnungsfreunde Fischer und Scharping setzten sich ganz unbescheiden die „Transformation des Völkerrechts in ein Recht der Weltbürger“ und damit die Negierung des real existierenden Völkerrechts auf die Agenda. Laut Michael Jäger ist Habermas mit ein Urheber dieser Praxis, da Fischer in einem „Kreis“ regelmässig mit Habermas zusammentraf und sich von ihm seine politischen Ansichten „formen“ liess.
Habermas ist sich nicht zu schade, die Kriegsherren Fischer und Scharping als Pioniere in der Verwirklichung von Kants ewigem Frieden darzustellen. Die Absurdität dieser Behauptung hat Jäger in seinem Artikel deutlich gemacht. Ich möchte an dieser Stelle auf einen anderen Punkt hinweisen: die Zustimmung zum Krieg liegt in der Konsequenz des Habermasschen Denkens und damit des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und ist kein zufälliger Betriebsunfall.
Ein typisch Habermasscher Satz ist etwa: „Aus dem Dilemma, so handeln zu müssen, als gäbe es schon den voll institutionalisierten weltbürgerlichen Zustand, den zu befördern die Absicht ist, folgt jedoch nicht etwa die Maxime, die Opfer ihren Schergen zu überlassen.“ Der voll institutionalisierte weltbürgerliche Zustand ist nach Habermas selbst zwingend systemisch organisiert und damit zwingend antidemokratisch. Gleichzeitig wird er legitimiert durch die Zivilgesellschaft, die sich lebensweltlich in den kommerziellen Massenmedien konstituiert, die von der von Habermas verteidigten Nato selbst als systemische Kriegspartei deklariert wurden.
„Hätte die Nato die Zerstörung des staatlichen Rundfunks nicht eine halbe Stunde vorher ankündigen sollen?“ – dann hätte das Bombardement wohl als praktische Verwirklichung des herrschaftsfreien Diskurses in der Zivilgesellschaft durchgehen können. Aber es ist ja nur das Fernsehen eines totalitären beinahe-noch-kommunistischen Staats-Überrests, die zivilgesellschaftlichen Medienkonzerne des Westens liefern jedoch schön lebensweltlich „die erschütternden Bilder von den Vertriebenentrecks auf den Routen nach Mazedonien, Montenegro und Albanien“ und damit „die Evidenzen für eine von längerer Hand geplante ethnische Säuberung“, was wiederum die Bomben legitimiert. Man lese genau: „Evidenzen“ genügen, denn die Nato-treuen Medienkonzerne repräsentieren per Habermas-Definition die lebensweltliche Zivilgesellschaft und müssen daher nicht systemischen Imperativen wie intersubjektive Überprüfbarkeit oder Masstäben der Empirie genügen, es reichen psychologische „Evidenzen“!
Laut ADN vom 27. Dezember 1999 haben „die deutschen Rüstungsexporte (…) unter der rotgrünen Bundesregierung ein Rekordhoch erreicht. Die Ausfuhren seien 1999 von 1.383 auf 3.2 Milliarden gestiegen.“ (Quelle: Konkret 3/00, S. 10) Das ist der Massstab, an dem das System seine Erfolge bewertet. Der Aufbau einer militärischen Zivilgesellschaft in aller Welt kommt also gut voran. Unter Habermas macht sich damit die kritische Theorie erstmals auch monetär bezahlt, ist also im besten bürgerlichen Sinne erfolgreich. Was wiederum die Bourgeoisie veranlasst, Habermas mit Preisen und Ehrungen für seine Verdienste um die Aufklärung einzudecken.
Es kann abschliessend festgestellt werden, dass zwischen „kritischer Theorie unter Habermas“ und „kritischer Theorie“ der Kriegszustand herrscht. Habermas‘ „unfriendly take-over“ und Monopolisierung der kritischen Theorie war, zumindest im deutschen Staats- und Parteiapparat und damit der medialen und universitären Öffentlichkeit, erfolgreich. Der Preis dafür war die Verbannung der Logik aus den Sozialwissenschaften. Wann endlich erhält Habermas die goldene Kanone von der deutschen Kriegswirtschaft?