Zur Fiktionalität Kritischer Theorie – Rückblick auf eine Tagung

Ein Schüler Max Horkheimers, Heinz Mauss, wäre womöglich 100 geworden. Zu diesem Anlass fanden sich in Marburg zur Tagung „Zu Traditionalität und Aktualität Kritischer Theorie“ fast 120 Menschen ein. Allein dieses doch gewaltige Interesse unterschied diese Tagung von dem geläufigen kulturindustriellen Betrieb an den Universitäten.

Zwischen ritualisierten Abläufen formierte sich die Mehrzahl der Vorträge zu Bewerbungsgesprächen einzelwissenschaftlicher Berufsphilosophen, im Monolog unfähig zur Reflexion auf die Bedingungen des eigenen Faches, seiner Vereinzelung, der Verarmung des Gedachten und des Jargons. Das insbesondere am zweiten Tag dominierende hölzerne Eindreschen auf das Publikum mit lustlos bis ärgerlich vorgelesenen Auszügen aus künftigen oder vergangenen Habilitationsschriften lies einen allerdings Adorno noch höher schätzen. Seine Viskosität in Sprache und Denken, sein in Vorlesungen, Vorträgen und noch in den dunkelsten Stellen seiner Bücher aufleuchtendes intimes Interesse an Gegenständen sowie am zeitweise verschwundenen und in der BRD partiell wieder gefunden geglaubten Adressaten wurde durch die selbstreferentielle Monotonie der Vortragenden nur gegenwärtiger. Merkwürdig gebannt horchten dennoch einige, konsterniert andere Stunde um Stunde, stumme Schwämme, kein Laut des Protests oder gar Unverständnisses gegen das, was sich hier in seiner philosophischen Gestalt manifestierte.

Laut waren hingegen die Reaktionen auf Störungen. An die von Heinz Mauss vollzogene Praxis, seine Dissertation unter den Nazis mit Plagiaten Marx’ und Horkheimers als Kontrabande eines subversiven Geistes einzureichen (und das mit Erfolg), wurde die Frage gestellt, ob eine solche Praxis der nationalsozialistischen Totalität und Vernichtungswut gegenüber angemessen gewesen sei. Das tödliche Risiko einer solchen Schmugglerei ist unbestritten. Wie aber wäre in der Retrospektive eine solche Praxis auf ihre Effektivität hin zu bewerten, zu empfehlen gewesen? Wer war der Adressat einer solchen Flaschenpost und war sie es wert, andere Briefe mit „Heil Hitler“ zu unterschreiben? Nach dem Fall des NS war klar, dass dessen ideologisches Fundament mit dem militärischen Erfolg verschweißt war, und dass ausschließlich der militärische Sieg den NS zusammenbrechen ließ. Einen Kampf um die Köpfe, wie ihn die „Weiße Rose“ versuchte, gab es nicht, er hatte keinen Erfolg, es gab überhaupt keine Köpfe mehr, nur noch Totenschädel. Erfolg im schnelleren Abrieb des nazistischen Getriebes versprachen allein bewaffnete Gruppierungen, Partisanen wie jene Juden in den osteuropäischen Wäldern, Stadtguerillas wie die Edelweißpiraten, und Einzelgänger wie Georg Elser und Jene, die Juden versteckten und verteidigten. Lebensgefährlich waren alle, das klandestine Marxzitat, die Flugblätter, der Anschlag auf Hitler. Hingerichtet wurden Sophie und Hans Scholl, jüdische Partisanen und Georg Elser unabhängig vom Grad der tatsächlichen Gefährdung der nationalsozialistischen Maschinerie. Es überlebten viele Frauen aus der Rosenstraße und Heinz Mauss, ungeachtet der sehr unterschiedlichen Wirksamkeit ihres jeweiligen Protestes.

Trotzdem war der in der Pause an mich gerichtete Vorwurf einer, der auf die Suizidalität abhob: Ich würde mittels der (für mich offen gehaltenen) Befragung der Mauss’schen Widerstandspraxis Selbstmordattentate einfordern. Ein Mensch, der mit einiger Sicherheit Gerhard Scheits ausführliche Analyse des Selbstmordattentates gelesen hatte, vergaß angesichts der nachhallenden Todesdrohung des Nationalsozialismus den Unterschied zwischen Gewalt reflektierendem antifaschistischem Widerstand und der antisemitischen Vernichtungspraxis des Selbstmordattentates. Das unendlich hohe Risiko für eine gute Sache wurde identifiziert mit dem nazistischen und islamistischen Selbstopfer für die Vernichtung des Guten. Was für eine unsägliche Abwertung des Opfers amerikanischer, britischer und russischer Soldaten, französischer, jüdischer, jugoslawischer, italienischer, spanischer Partisanen für das Leben der in die innere Emigration gegangenen deutschen Intellektuellen. Adorno, der das zu sich gekommene Deutschland sehr knapp nur überlebte, konnte sich wie viele andere, die dem Regime von der Sense sprangen von dem beklemmenden Gefühl der Schuld nicht freimachen. Zu offen blieb auch einer ganzen Generation von Nachkriegsdeutschen, was man denn als Einzelner da noch hätte tun können. Die Antwort blieben viele aus der „Kritischen Theorie“ nicht schuldig: Sie beteiligten sich am „War Effort“, lieferten für die Geheimdienste der Aliierten Studien. An Heinz Mauss, beziehungsweise an jene, die ihn gelesen und gekannt haben, würde die die Frage richten, ob und wie jener später auf die wahrscheinliche Wirkungslosigkeit des eigenen Widerstandes innerhalb eines solchen Systems reflektierte. Das Beispiel Heinz Mauss wäre auf einer freilich milderen Stufe heute noch lehrreich: Die Flucht in die einzelwissenschaftlich betriebene Philosophie schneidet die stets schon philosophische Reflexion über Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Praxis ab. Ein aufs Zerreißen angelegte Aufspannen von gesellschaftlichen Verhältnissen wie es Adorno/Horkheimer praktizierten – in der von dem zwischen Antike und Nationalsozialismus, Mensch und Tier, Film und Skulptur gesammeltem Material überquellenden „Dialektik der Aufklärung“ – mag auf einer Tagung unmöglich sein. Es fehlte indes auch nur der Hauch dessen, so wenig man einen einzelnen Vortrag hätte dafür verantwortlich machen können und wollen.

Ein zweiter, flugs inkriminierter Verweis stellte in Frage, wie das Subjekt-Objekt-Verhältnis, wie Begriffe wie „erste und zweite Natur“ bei Adorno in völliger Absehung von Freud vorgestellt und gedacht werden können. Nicht nur das: das unartikulierte, spontane Bestehen auf die Bedeutung der Psychoanalyse für die Philosophie, deren Vorahnung Nietzsche weitaus intensiver „ritt“ als Hegel, wurde mit einem flapsigen Verweis auf einzelwissenschaftliche Interessen beschieden. Auf Freud sei man nicht vorbereitet, aber über Adorno will man schon sprechen. Afrika bleibt für die versammelten Philosophen terra incognita, aber von Hegel erhofft man sich Veränderung. Antisemitismus durchwächst Gesellschaft wie ein Pilzmyzel, aber es soll dabei um „Anerkennung“ und „Nichtanerkennung“ gehen. Das ist der Stand der idealistischen „Kritischen Theorie“ 50 Jahre nach Adorno.

Die philosophische Mystifizierung Adornos betreibt Exegese, macht Theorie zum Zweck und Gegenstände nichtig. Sie ist mit Adorno als in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zum Antiintellektualismus befindlich zu bestimmen, nicht als ihr Gegensatz. Welche Konsequenzen aus wie auch immer populären fehlgeleiteten Begriffen von zweiter Natur, von Anerkennung und Geist sich ergeben blieb ebenso im Dunkeln wie die Folgen und Bedingungen einer Aufklärung über diese und mit diesen Begriffen. Adornos Werk hingegen liest sich als ein Farbenspiel von Gegenständen, die seine theoretischeren Schriften nie verlassen und zu denen er immer wieder zurückkehrt. Filme und Schauspieler wie Charlie Chaplin, Autoren wie Kafka und Beckett, die Radiobeiträge amerikanischer Radiopriester, astrologische Spalten, esoterische Gruppierungen, Antisemitismus und autoritärer Charakter, Lehrberuf und Studentenschaft, hessische Landbevölkerung und wahnsinnige Autofahrer, S-Bahn-Passagiere und der Konsum von Speiseeis, Buchen und Wildschweine, Pantoffeln und Kartoffeln, Psyche und Soma, Kirkegaard und Wittgenstein, zeitgenössische und historische politische Vorgänge, Träume, Traumfabriken und Alpträume: Von all jenen Adorno an Herz und Hirn springenden Gegenständen hörte man so gut wie nichts auf dieser Tagung. Adorno beklagte sich einst über den Spott, den er erntete, als er, der große Philosoph sich mit Oridinärem wie der Forderung nach einer Verkehrsampel vor seinem Institut abgab. Seine Klage wurde nicht gehört, die Trennung besteht fort.

In der sich minutenschnell aktualisierenden Generation aus Facebook-Usern und W1-Philosophen gibt es kein Interesse an Aktualität. Dass 65 Jahre nach dem Nationalsozialismus, 30 Jahre nach Pol Pot, 16 Jahre nach den Interahamwe und während Darfur und Kongo verbrannt sind und werden, Diktatoren Demonstranten massakrieren, Islamisten ganze Staaten ausbomben, Millionen Hunger leiden, dass also heute eine Tagung mit dem Gegenstand der Kritischen Theorie stattfinden kann, ohne sich auf einen anderen Gegenstand der Kritischen Theorie zu beziehen als auf Hegel und einige Passagen bei Marx, ist symptomatisch. Dass sich beim Publikum kein Protest dagegen regt, ist ein Phänomen, über das Adorno und möglicherweise auch Heinz Mauss einiges zu sagen hätte. Deren Kritische Theorie findet jedenfalls nicht statt.