Von migrantischen und touristischen Reisewegen
Infoblatt-Redaktion | Zara Pfeiffer
Der Flughafen Frankfurt ist ein Drehkreuz der Mobilität. Täglich verkehren hier durchschnittlich 144.600 Reisende: Tourist_innen, Geschäftsreisende, Migrant_innen, die abfliegen, ankommen, zwischenlanden …
Die unterschiedlichen Typen von Reisenden, die wir am Flughafen beobachten, entsprechen den Bildern, die wir uns von ihnen machen. Während Geschäftsreisende als Zeichen für ihren Status schicke kleine Trolleys hinter sich herziehen, sind die klassischen Markenzeichen von Tourist_innen die Sonnenbrille und der Fotoapparat. Migrant_innen lassen sich unschwer an ihren riesigen Koffern und billigen Plastiktaschen erkennen. Flüchtlinge sind am Flughafen unsichtbar.
Wir haben den Flughafen Frankfurt als Ausgangspunkt gewählt, um uns mit dem Thema Reisen in den Ausprägungen Tourismus und Migration zu beschäftigen. So unterschiedliche Formen von Mobilität wie Migration und Tourismus aus der Perspektive des Reisens zu betrachten ist nicht ganz unproblematisch, liegt doch die spontane Antwort auf die Frage nach den Gemeinsamkeiten von Tourist_ innen mit Migrant_innen und Flüchtlingen auf der Hand: keine. Oder zumindest sehr wenig. Bei Flüchtlingen steht das weg von im Vordergrund, sie fliehen vor existentieller Bedrohung. Migrant_innen dagegen wandern (lat. migrare = wandern) hin zu einem bestimmten Ort, um sich neue Perspektiven zu eröffnen. Mit Tourist_innen, die zu ihrem individuellen Vergnügen reisen, haben beide erst mal nichts gemeinsam.
So einfach, wie es auf den ersten Blick erscheint, hat sich uns das Verhältnis zwischen Migration und Tourismus jedoch nicht dargestellt. Um den Parallelen und Widersprüchen auf den Grund zu gehen, wollen wir im Folgenden ausgehend vom Frankfurter Flughafen Orte aufsuchen, an denen sich migrantische und touristische Reisewege begegnen, kreuzen oder überlappen.
Abflug: Frankfurt Flughafen – Ankunft: Kanaren 3200 km – 4:00 h
Während die Kanarischen Inseln hierzulande bis vor einigen Jahren nahezu ausschließlich als touristisches Reiseziel imaginiert wurden, haben Medienberichte in den letzten Jahren dafür gesorgt, dass am Bewusstseinshorizont der touristischen Sonne- Strand-Meer-Kulisse zunehmend überfüllte Boote mit Flüchtlingen aus Afrika auftauchen. Vor allem im Sommer 2006 häuften sich die Berichte über die so genannten ‘boat people’, die von Marokko, Mauretanien oder dem Senegal aus versuchen, die Strände der Kanaren zu erreichen. In der Tat sind die Kanarischen Inseln ein Ort, auf den sich die Träume afrikanischer Migrant_innen von einem bessern Leben in Europa und die Urlaubsträume europäischer Tourist_innen gleichermaßen richten. Nach dem gescheiterten „Sturm“ auf die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla im Sommer und Herbst 2005 stieg die Beliebtheit der Kanarischen Inseln als Etappenziel in die EU im Jahr 2006 vorübergehend rapide an.
Weil die Grenzkontrollen immer engmaschiger werden – das Budget der europäischen Grenzschutzagentur Frontex ist der am stärksten wachsende Haushaltsposten der EU 1 –, werden die Routen länger, die Boote kleiner und somit die Überfahrten gefährlicher. Nach Schätzungen der kanarischen Regionalregierung starben im Jahr 2006 etwa 6.000 Menschen beim Versuch der Überfahrt.
Die jährlich knapp zehn Millionen Tourist_innen, die auf den Kanaren ihren Urlaub verbringen, stolpern bisweilen über das Strandgut gekenterter Boote, das die menschlichen Tragödien erahnen lässt, die sich im selben Meer abspielen, in dem sie zu baden pflegen. Und auch wenn versucht wird, Flüchtlinge und Tourist_innen, so gut es geht, räumlich voneinander zu trennen, indem die Auffanglager in entlegenere Inselteile gelegt werden, nutzen viele Tourist_innen – angelockt von der Berichterstattung – die Gelegenheit, das Schauspiel der einlaufenden Boote mit den Flüchtlingen am Hafen mit eigenen Augen zu sehen und ganz in touristischer Manier auch zu fotografieren. Die Anwesenheit der Flüchtlinge scheint dem Tourismus kaum zu schaden, im Gegenteil bringen die Schlagzeilen über die Problematik die Kanarischen Inseln – frei nach dem Motto, es gibt keine negative Werbung – als mögliches Urlaubsziel verstärkt ins touristische Bewusstsein.
Der migrantische Aufenthalt im Auffanglager gleicht dem touristischen Aufenthalt im Hotel ebenso wenig im Komfort wie die Art der Anreise. Bei beiden handelt es sich jedoch – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nur um ein kurzes Intermezzo auf den Kanarischen Inseln. Für die Tourist_innen geht es zurück in den gleichen Alltag, aus dem sie nur wenige Wochen zuvor abgereist waren. Für die Migrant- _innen dagegen geht es mit ein wenig Glück und der richtigen Geschichte nicht zurück nach Afrika, sondern weiter in Richtung Europa. Da das spanische Gesetz eine Vierzigtagefrist für die Freilassung von undokumentierten Migrant_innen vorschreibt, werden diese per Flugzeug nach Madrid geflogen, wo sie dann einen Ausweisungsbescheid ausgehändigt bekommen, der bei Migrant_innen, deren Identität und Herkunftsland unbekannt sind, nicht vollstreckt werden kann, der aber auch keine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung beinhaltet. In der Praxis bedeutet dies, dass sie mit diesem Papier, einer Cola, einem Fahrschein und der Adresse einer privaten Hilfsorganisation sich selbst überlassen werden. Herzlich willkommen als flexibilisierte, billige und ausbeutbare Arbeitskraft.
Abflug: Frankfurt Flughafen – Ankunft: Almería 1710 km – 5:30 h
Insbesondere der Süden Spaniens hat einen enormen Bedarf an genau diesen Arbeitskräften. Zum Beispiel im Obst- und Gemüseanbau, der sich in der Region rund um El Ejido und Almería über 35.000 Hektar unter einem Meer von Plastikplanen erstreckt. Auf diesen Plantagen arbeiten über das Jahr verteilt rund 90.000 Beschäftigte, 96 Prozent sind Migrant- _innen, viele von ihnen ohne Papiere. 2 Vor dem Beitritt Spaniens zum Schengenraum kamen viele Marokkaner_ innen zur Ernte nach Spanien, um am Ende der Saison mit dem verdienten Geld nach Marokko zurückzukehren. Mit der Einführung des Visumzwangs ist dieses Pendeln zwischen der afrikanischen und der europäischen Küste nicht mehr so einfach möglich, weshalb viele, die zuvor nur saisonal zum Arbeiten nach Spanien kamen, sich nun dauerhaft ohne Papiere in Spanien aufhalten.
Die Migrant_innen ohne Papiere sind aber nicht nur in der Landwirtschaft, sondern auch in der touristischen Dienstleistungs- und Bauindustrie als billige und flexible Arbeitskräfte des Tourismusgeschäfts willkommen. Willkommen ist auch eine andere Gruppe von Migrant_innen, die sich ohne offizielle Aufenthaltsgenehmigung im Süden Spaniens aufhalten: die so genannten vacacionistas, Tourist_innen, die sich im Urlaubsgebiet niedergelassen und dauerhaft im Urlaub eingerichtet haben. Dem Urlaubsgefühl dieser touristischen Resident_innen würde es wohl widersprechen, sich bei den Behörden zu melden, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen, weshalb dies faktisch auch kaum jemand macht, auch wenn sie trotz europäischer Freizügigkeit dazu verpflichtet wären. Im Gegensatz zu den undokumentierten Migrant_innen, die weitgehend unsichtbar bleiben, ist die Anwesenheit der inoffiziellen Resident_ innen kaum zu übersehen. Sie leben vor den Kulissen des Tourismus, die zu nicht unerheblichen Teilen von der Arbeit der Migrant_innen aufrecht erhalten werden, deren Leben sich zu überwiegenden Teilen hinter diesen Kulissen abspielt. Von Seiten der spanischen Behörden werden beide Formen des undokumentierten Aufenthalts aus vermutlich wirtschaftlichen Gründen weitgehend ignoriert: bei den Migrant_innen geht es um die billige Arbeitskraft, bei Resident_innen um das Geld, das sie ins Land bringen.
Im Fall der Resident_innen kommt es zu einer Verschiebung, die die herkömmlichen Kategorien von Migrant_ innen und Tourist_innen auf den Kopf stellt. Tourist_innen werden hier zu Einwanderer_innen, die sich im Dauerurlaub mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus niederlassen. Aber auch die Kategorien Flüchtling und Migrant_ in bleiben nicht ohne Brüche: der Großteil der in Spanien lebenden Migrant_innen reist nicht klandestin mit dem Boot, sondern ganz offiziell mit Touristenvisum ein. Laut einer Erhebung des Spanischen Instituts für Statistik aus dem Jahr 2007 sind von allen, in Spanien lebenden Migrant_innen gerade einmal 1 Prozent mit dem Boot eingereist, 62,7 Prozent dagegen mit dem Flugzeug. Die meisten Migrant_ innen kommen aus Lateinamerika (41,3 %), aus der EU (20,5 %) und nur 15 Prozent aus Afrika. Und auch unter den Afrikaner_innen sind nur 6,3 Prozent mit dem Boot nach Spanien gekommen. 3
Die öffentliche Wahrnehmung ist jedoch eine andere. Die übervollen Boote mit Flüchtlingen, die an den Außengrenzen der Festung Europa ihr Leben riskieren, dominieren eine Debatte, die zwischen Mitleid mit diesen armen Opfern und der realistischen Einsicht in Notwendigkeiten schwankt. Das Boot ist voll, bei aller Menschenliebe können nicht alle Flüchtlingsboote im Boot EU aufgenommen werden. Die Bilder von den vollen Booten schreiben nicht nur den Opferstatus der Flüchtlinge fest, sondern unterstreichen gleichzeitig die Notwendigkeit der Festung Europa. Auf der einen Seite müssen die Flüchtlinge vor bösen Schlepper- _innen und Schleuser_innen beschützt werden, die ihnen ihr letztes Geld abnehmen, um sie dann auf dem Meer ihrem Schicksal zu überlassen. Auf der anderen Seite kann Europa – beim besten Willen selbstverständlich – nicht alle aufnehmen, die gerne kommen wollen. Die zunehmende Überwachung an den Außengrenzen der EU ist also im Grunde genommen ein Akt der Menschlichkeit, dient sie doch vor allem dazu, in Seenot geratene Flüchtlingsboote aufzuspüren, um deren Passagiere vor dem Ertrinken zu retten. Auch die Lager, die an den Rändern der EU und mit deren Unterstützung gebaut werden, dienen vor allem dazu, die Migrant_innen davor zu bewahren, ihr Leben zu riskieren. Ebenso die von der EU finanzierten Videos, die den Menschen schon in ihren Heimatländern vor Augen führen sollen, dass ihre Kinder auf dem Weg nach Europa ihr Leben riskieren dafür, dass sie in Europa keineswegs das erhoffte bessere Leben erwartet, sondern Verfolgung durch die Polizei und Rassismus. 4 Statt die Reise- und Lebensbedingungen der Migrant_innen jedoch zu kritisieren oder gar zu verändern, zielen die Maßnahmen der EU darauf ab, diese zu instrumentalisieren, um die Migrant_innen davon abzuhalten, in die EU zu gelangen.
Abflug: Frankfurt Flughafen – Ankunft: Neapel 1111 km – 2:10 h
Italien als das Land, mit dem die BRD 1955 den ersten Anwerbevertrag für Gastarbeiter_innen geschlossen hat, war gleichzeitig das erste große Reiseziel des in den 1950er Jahren einsetzenden westdeutschen Massentourismus. Arbeitsmigration und Tourismus standen in einem komplementären Verhältnis zueinander: die Herkunftsländer der Gastarbeiter_innen waren gleichzeitig die Urlaubsziele deutscher Tourist_innen. Anders als geplant kehrten viele Gastarbeiter_ innen aber nicht nach einigen Jahren in ihre Herkunftsländer zurück, sondern ließen sich dauerhaft in der BRD nieder und wurden nach einigen Jahren selbst zu Urlauber_innen in der alten Heimat. Andere wiederum kehrten nach einigen Jahren in ihre Herkunftsländer zurück, um dort im Tourismus tätig zu werden und mit dem ersparten Geld ein Hotel oder Restaurant aufzumachen. Und auch unter den Tourist_innen gab es einige, die sich dauerhaft im Urlaubsland niedergelassen haben, um entweder ihren Lebensabend dort zu verbringen oder um selbst in der Tourismusbranche tätig zu werden.
In der BRD waren die italienischen, griechischen oder türkischen Restaurants, die ein wenig Urlaubsflair in die deutschen Städte brachten, meistens willkommen, die Migrant_ innen selbst dagegen häufig weniger. Aber auch die Tourist_innen waren durchaus nicht immer in den Reiseländern willkommen. Interessanterweise ähnelt die Kritik am Tourismus, insbesondere dem Massentourismus, in vielen Bildern und Motiven den Abwehrreaktionen auf Migrant_innen. Von einer Flut von Tourist_innen ist die Rede, welche die Kultur in den Reiseländern zerstöre …
Inzwischen sind viele der Herkunftsländer ehemaliger Gastarbeiter_ innen selbst zu Einwanderungsländern geworden. Und Italien mit seinen knapp 7.500 Kilometern Küste ist für viele Migrant_innen längst nicht mehr nur Durchgangsstation, sondern auch Ziel der Reise. Verschoben haben sich in den letzten Jahrzehnten aber nicht nur die Migrationsbewegungen und -richtungen, sondern auch die europäischen Migrationsund Grenzpolitiken. Insbesondere das Vertragswerk von Schengen hat zu einer deutlichen Veränderung von Mobilitäten und Grenzen in Europa beigetragen. Während die Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedsstaaten des Schengenraumes weitgehend aufgehoben wurden, kam es zu einer gleichzeitigen Aufrüstung und Vorverlagerung der Außengrenze und zu einer Ausweitung von Grenzzonen und -praktiken im Inneren. Für innereuropäische Tourist_innen bedeutet dieser Wandel in der Praxis meist mehr Bewegungsfreiheit, da lästige Grenzkontrollen bei der Fahrt in den Urlaub wegfallen. Für (vor allem undokumentierte) Migrant_innen bedeutet derselbe Wandel in erster Linie eine Zunahme von Unsicherheit, welche das Mehr an Bewegungsfreiheit wieder aufhebt. Durch die Ausweitung der Grenzlinien auf Grenzräume werden Grenzen weniger an bestimmte Orte, sondern an bestimmte Praktiken gekoppelt, mit dem Effekt, dass sich Grenzkontrollen weniger genau vorhersagen und somit weniger gut umgehen lassen. Hinzu kommt, dass es zunehmend schwieriger wird und mehr Ressourcen erfordert, die Außengrenze der EU zu überwinden. Mit dem Begriff Festung soll genau diese Situation verdeutlicht werden.
Die Festung Europa aber ist weitaus durchlässiger, als es der Begriff suggeriert und die Wege der Migrant_ innen weitaus vielfältiger. Die Festung Europa ist löchrig wie ein Schweizer Käse. Das wissen auch die Migrant_innen, die sich immer neue Wege einfallen lassen (müssen), um in die EU zu gelangen. Zwar werden manche Grenzübergänge immer undurchlässiger und die zunehmende Überwachung führt dazu, dass die Routen für die Migrant_innen immer gefährlicher werden, aber stoppen lassen sich die Migrationsbewegungen auf diese Weise nicht. Die These von der Autonomie der Migration beschreibt genau diese Situation. Migration ist nicht das alleinige Ergebnis von Angebot und Nachfrage, von Push- und Pull-Faktoren, Migration lässt sich nicht einfach an- und wieder abstellen. Migration, das sind Menschen, die sich aus den unterschiedlichsten Gründen – mehr oder weniger freiwillig – auf den Weg machen, um woanders zu leben.
Endstation: Frankfurt Flughafen 100 m – 43 Tage?
Der Flughafen ist ein riesiger Warteraum: man wartet auf das Einchecken, das Boarding, den Abflug, auf den Anschlussflug, das Gepäck, die Passkontrolle etc. Dieses Warten gestaltet sich jedoch nicht für alle Menschen gleich. Komfort und Dauer der Wartezeit unterscheiden sich entlang von Ticket, Pass und Hautfarbe. Nicht nur die Warteräume von Erste- Klasse-Passagieren sind wesentlich komfortabler, auch die Wartezeiten sind wesentlich kürzer als von Passagieren, die in der Economy Class reisen. Je nachdem, welchen Pass ich vorzeigen kann und aus welchem Land ich gerade komme, werde ich bei den Pass- und Zollkontrollen mehr oder weniger schnell durchgewunken. Bei einem deutschen, französischen oder US-amerikanischen Pass ist die Wartezeit im Schnitt deutlich kürzer als bei einem algerischen, indischen oder senegalesischen Pass. Und Passagiere von Flügen aus flüchtlingsrelevanten Ländern wie zum Beispiel Algerien oder Afghanistan werden vom BGS besonders genau unter die Lupe genommen, um Personen herauszufiltern, deren Einreisewunsch als „offensichtlich unbegründet“ eingestuft wird. 5
Für Reisende ohne gültige Papiere, die bei ihrer Ankunft um Asyl bitten, bedeutet der Flughafen Frankfurt erst einmal Endstation. Sie dürfen nicht in die BRD einreisen, sondern werden im Transitbereich interniert und dem so genannten Flughafenverfahren unterzogen, was die Rückführung im Falle einer Ablehnung des Asylantrags erheblich erleichtert, weil sie sich nicht auf den gesetzlichen Schutz eines Landes, der eine Einreise voraussetzt, berufen können. Die Wartezeit am Flughafen dehnt sich für diese Personen oft über mehrere Wochen und Monate aus. 6
Erkenntnisse im Warteraum
Entfernungen und Reisezeiten sind keine festen Größen. Mehrere tausend Kilometer entfernte Orte sind bisweilen leichter und schneller zu erreichen, als die wenigen Meter zu überwinden sind, die nötig wären, um den Transitbereich zu verlassen. Hier liegt auch die Antwort auf die Frage, warum das Meer wagen, wenn man im Flugzeug reisen kann: Manchmal ist es der schnellere und erfolgversprechendere Weg in die EU, die riskante Überfahrt in einem kleinen Boot zu versuchen, um die Kanaren zu erreichen, statt nach Frankfurt zu fliegen und dort im Transitbereich festgehalten und am Ende doch wieder zurückgeschickt zu werden. Für diejenigen, denen es gelingt, Papiere, ein Touristenvisum und ein Flugticket zu bekommen, ist es jedoch der einfachste, sicherste und schnellste Weg, als Tourist_in einzureisen, weshalb der größte Teil der undokumentierten Migrant_innen auch über diesen Weg in die EU kommt. Für Migrant_innen aus dem Süden ist das Touristenvisum eine Eintrittskarte in ein neues Leben. Für Tourist_innen aus dem Norden ist der Urlaub dagegen ein vorübergehender Ausstieg aus dem Arbeitsalltag. Auf beiden Seiten herrscht erheblicher Erfolgsdruck. Die schönsten Wochen im Jahr als Ausgleich, Antrieb und Rechtfertigung für den Alltagstrott und -stress des restlichen Jahres müssen perfekt sein, würden sie doch andernfalls diese in Frage stellen. Und auch das neue Leben der Migrant_innen, der Wechsel auf die Seite der Gewinner_innen, muss gelingen: die Hoffnungen, das Geld und die Mühen, die investiert wurden, machen den Weg zurück manchmal beinahe unmöglich.
Migration und Tourismus lassen sich nicht gleichsetzen, aber es gibt dennoch mehr Parallelen und Überschneidungen, als es auf den ersten Blick den Eindruck macht. Es gibt zahlreiche verschiedene Formen zu reisen und zu migrieren und die Kategorien Flüchtling, Migrant_in, Tourist_ in lassen sich nicht immer eindeutig voneinander abgrenzen, sondern überlappen und verschieben sich bisweilen: Tourist_innen werden zu Migrant_ innen, Flüchtlinge nutzen touristische Infrastruktur, Migrant_innen reisen als Tourist_innen in ihre Herkunftsländer …
Migration und Tourismus unter der Perspektive reisen zu betrachten beinhaltet nicht zuletzt eine Weigerung, Migrant_innen auf ihren Opferstatus zu reduzieren. Das bedeutet jedoch nicht, die Ursachen von Migration auszublenden oder zu leugnen, dass die Wahl, die Menschen dazu bringt, ihr Leben auf dem Meer zu riskieren, um nach Europa zu kommen, eine beschissene ist. Warum das Meer wagen, wenn man im Flugzeug reisen kann? Weil es nach wie vor keine offenen Grenzen gibt. Mobilität für alle!
Lesenswerte Lektüre:
– Holert, Tom/Terkessidis, Mark: Fliehkraft. Gesellschaft in Bewegung – von Migranten und Touristen, Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2006.
– Transit Migration Forschungsgruppe (Hg.): Turbulente Ränder. Neue Perspektiven auf Migration an den Grenzen Europas, Transcript Verlag, Bielefeld, 2007.
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1 Im Jahr 2006 betrug das Budget von Frontex 17,5 Millionen Euro, 2007 waren es schon 42 Millionen Euro und für das Jahr 2008 sind 70 Millionen Euro geplant.
2 Vgl. Was hat Gemüse mit Migration zu tun? Lebens- und Arbeitsbedingungen von MigrantInnen in der europäischen Landwirtschaft in: NoLager Bremen (Hg.): Peripherie und Plastikmeer. Globale Landwirtschaft – Migration – Widerstand, S.12f. http://no-racism.net/upload/823354996.pdf [22.05.2008]
3 Vgl. http://www.ine.es/jaxi/tabla.do?path=/t20/p319/a2007/l0/&file=04016.px&type=pcaxis&L=0
4 Eines dieser Videos zeigt einen jungen Mann, der seinem offensichtlich recht wohlhabenden Vater am Telefon in Kamerun erzählt, wie gut es ihm geht in Europa. Während dieses Gesprächs werden Bilder eingeblendet, die denselben jungen Mann zeigen, wie er um Essen bettelt, auf der Straße schläft und von der Polizei verfolgt wird. Das Video, das von der Schweizer Regierung in Auftrag gegeben wurde und u. a mit Mitteln der EU finanziert wurde, endet mit dem Slogan „Leaving is not alway living“ und wurde in Kamerun und Nigeria ausgestrahlt. Ein anderes Video, das von der spanischen Regierung finanziert wurde und im senegalesischen Fernsehen ausgestrahlt wird, zeigt eine verzweifelte Mutter, die erzählt, dass sie seit acht Monaten nichts von ihrem Sohn gehört hat, der sich auf den Weg nach Europa gemacht hat. In den darauf folgenden Szene wird das Bild eines jungen Mannes gezeigt, der mit dem Gesicht nach unten auf einem Felsen liegt.
5 Vgl. Asylverfahrensgesetz §18a (3)
6 Im Jahr 2000 hat sich Naimah Hadjar nach 238 Tagen im Internierungslager am Frankfurter Flughafen das Leben genommen.
Erschienen in:
Infoblatt 72 | migrare – reisen | Juni 2008