Immer wieder, wenn es um den Islam geht, denkt man heutzutage vor allem an eins: Homophobie und Patriarchat. Im Kontrast dazu erblüht “unser” freier Westen, der solche Dinge längst überwunden hat und der sich unbedingt anschicken sollte, seine Errungenschaften auf der ganzen Welt zu verbreiten oder sich zumindest vor den Heerscharen homophober Moslems, die in ihn eindringen wollen, hinter sichern Mauern zu verschanzen.
Auch ich war vor der Lektüre des Buches “Die Entführung aus dem Serail” von Georg Klauda, der vielen eher unter seinem Pseudonym “Lysis” bekannt sein dürfte, zumindest in Teilen dieser Ansicht. Dabei wird darin – wie der Autor anhand zahlloser Quellen gut begründet dargelegt – die historische Realität nahezu auf den Kopf gestellt: es war der Westen, in dem in einer recht blutigen Entwicklungsgeschichte voller Verfolgungen und Entbehrungen das Konzept “Homosexualität” entwickelt und von dort aus in die islamische Welt exportiert wurde. Nicht die islamische Welt, in der dieses Konzept bis ins 19. Jahrhundert schlichtweg nicht existierte und auf die Zeit vorher auf diese Gesellschaften garnicht angewendet werden kann, ist es, die man als “konstitutiv homophob” bezeichnen kann, sondern die abendländische, wie sie sich seit der Neuzeit entwickelte.
Die Ignoranz besteht also sowohl in der Verkennung der Geschichte als auch in dem Anspruch westlicher Wissenschaften, die je eigenen Begriffe als “objektiv” zu unterstellen und einfach mal auf völlig andere Systeme zu übertragen. Der Begriff der “Homosexualität”, eine Konstrukt des 19. Jahrhunderts, wird so zu einer ahistorischen Kategorie, so als wären die Menschen schon immer nach diesem Schema kategorisiert worden. Dass es in der Vergangenheit auch ganz andere Denk- und Lebensweisen gab, und auch in Zukunft möglich sein könnten, gerät so völlig aus dem Blickfeld. Da ist “Homosexualität” sicher nur ein Beispiel von vielen.
Um den Unterschied etwas zu pointieren: im Islam (und auch in ähnlicher Form im vorneuzeitlichen Abendland) galt Analverkehr (und zwar unabhängig vom Geschlecht des passiven Parts) als verwerfliches Vergehen und wird nach der Scharia bestraft. Mehr aber auch nicht. Es gibt keinen unterstellten Sozialcharakter des “Analfickers”, der etwa über eine bestimmte psychische Disposition verfügen würde, die ihn zu einer unnormalen Verhaltensweise treibt, die man erforschen und womöglich therapieren könnte. Er ist einfach wie jemand, der bei Rot über die Ampel fährt un dafür einen Strafzettel kassiert. Folgerichtig halt es im islamischen Diskurs als überhaupt nichts Schändliches oder Ungewöhnliches, als Mann Männer zu lieben, sondern im Gegenteil weit verbreitet und akzeptiert. Georg Klauda zitiert etwa zahllose Beispiele von persischen und arabischen Liebesgedichten, in denen die Schönheit und erotische Attraktivität junger Knaben besungen wird.
Und zugleich war es auch so, dass es nichts Ungewöhnliches war, Männer und Frauen zu lieben. Klar – das ist ja nur in einer Gesellschaft “ungewöhnlich”, in der es als allgemein anerkannte Naturtatsache gilt, dass es Menschen gibt die “so herum” bzw. “anders herum” sind.
Dies kann man sicher mit den oft zitierten Zuständen im antiken Griechenland parallelisieren. Auch hier macht es gar keinen Sinn zu sagen, die Gesellschaft wäre gegenüber Homosexuellen tolerant oder intolerant gewesen. Es gab keine Homo- und auch keine Heterosexuellen, sondern eine völlig anderes sexuelles Wertesystem, in dem es überhaupt nichts unmännliches an sich hatte, wenn ein mit einer Frau verheirateter Mann ein sexuelles Verhältnis mit einem Knaben hatte. Die päderastische Beziehung wird in Platons Dialogen im Gegenteil oft als Ideal glorifiziert, so etwa insbesondere im “Symposion”1.
Erst in unserem heteronormativen Wertesystem macht die Rede von “Toleranz gegenüber Homosexuellen” Sinn und impliziert zugleich eine weitreichende repressive Einschränkung möglicher Lebensweisen selbst im Verhältnis zu vormodernen Gesellschaften (zumindest unter diesem Aspekt!!). Denn Heterosexualität gilt als stets präsente Norm und alle anderen Arten der Liebe als Angelegenheit unnormaler, irgendwie immer als verworfen betrachteter Subjekte. Und deshalb ist es auch unsinnig davon zu sprechen, Homosexuelle müssten toleriert werden. Was anstünde wäre eher eine theoretische und praktische Aufweichung dieser Heteronormativität.
Aber das Buch von Georg Klauda enthält noch zahlreiche andere spannende Thesen und Anekdoten, die ich hier unmöglich alle aufzählen kann. Es ist auf jeden Fall weit mehr als ein Buch, das “nur” den Islam darstellen würde, sondern kann meines Erachtens durchaus als allgemeine Einführung in die an Foucault anschließenden “gay and lesbian studies” verstanden werden, in deren Tradition sich der Autor explizit stellt. Denn nach gut hermeneutischer Manier wird eben nicht nur der fremde Standpunkt, sondern in einem ausführlichen Kapitel auch die historische Entwicklung des eigenen Standpunkts beleuchtet: wie kam es überhaupt dazu, dass man in Europa anfing, “Homosexuelle” zu verfolgen, als gesellschaftliche Randgruppe und Objekte der Psychologie zu begreifen und in subkulturelle Ghettos zu verbannen?
Ein Aspekt, den auch Georg Klauda explizit betont, ist auf jeden Fall ein praktisches Gebot staatlicher Biopolitik: nach der Pest und dem 30jährigen Krieg suchte man nach Mitteln und Wegen, wieder mehr Nachwuchs zu erzeugen. Auch wenn das nicht so verstanden werden darf, als hätten die Akteure gewusste, was sie taten – was eine ziemlich absurde Vorstellung wäre – scheint dies bis heute fortzuwirken. Auch dem heutigen Staat geht es halt wesentlich darum, immer genügend Menschlein zur Verfügung zu haben. Und in staatlichen Kampagnen und der Schule wird ja auch Alles nötige getan, um dementsprechende Leitbilder in die Köpfe zu implementieren und es als das normalste und wünschenswerteste von der Welt erscheinen zu lassen, heterosexuellen Sex zu praktizieren und irgendwann eine Familie zu gründen.
Zum Abschluss dieser Rezension möchte ich mir dazu noch erlauben, eine kleine persönliche Anekdote einschieben, die ich lange vor der Lektüre des Buches erlebte und die mir im Kontext dieses Wissens etwas anders als damals erscheint:
Ich diskutierte mit einem iranischen Immigranten, der schon seite Jahrzehnten in der westlichen Welt beheimatet ist (erst in Rumänien, dann in Deutschland) über den Iran und kam dabei fast zwangsläufig auf das Thema “Unterdrückung von Homosexuellen” – die ja dort auch tatsächlich stattfindet, wenn auch entgegen der landläufigen Auffassung keineswegs im Geiste der Scharia und des Koran – zu sprechen. Obwohl sonst durchaus kritisch gegenüber den politischen Verhältnissen in seinem Heimatland eingestellt, widersprach er mir in diesem Punkt ausdrücklich: dies sei gerade kein Fehler, dem man dem Mullah-Regime vorwerfen können, denn es sei nunmal Konsens im Iran, dass Homosexuelle minderwertig seien. Und das stehe ja auch wohl objektiv betrachtet außer Frage.
Er verwies dabei gerade auf den Koran und auch auf die Bibel, in denen nunmal objektive Wertmaßstäbe enthalten seien.
Seine Argumentation wies dabei interessanterweise erstaunliche Unstimmigkeiten auf. So behauptete er erst, es gäbe im Iran sowas garnicht, das sei alles ein Produkt des dekadenten Westens und auch Griechenlands, dann gab er zu, in der iranischen Armee mit einem Schwulen befreundet gewesen zu sein. Auch schien ihn an den Homosexuellen garnicht so sehr die Liebe zum gleichen Geschlecht an sich, sondern der Analverkehr zu stören. Als ich nämlich darauf verwies, dass man Homosexualität doch garnicht darauf reduzieren könne, zeigte er sich ganz verwundert und behauptete, das nicht zu wissen. Für ihn schien das im Grunde gleichbedeutend zu sein.
Vor dem Hintergrund der “Vertreibung aus dem Serail” stellt sich das so dar: im Zuge der Heteronormalisierung der islamischen Welt hat sich in der islamischen Welt eine Art kollektive Gehirnwäsche vollzogen. Wurde es im 19. Jahrhundert den Muslimen noch von den Europäern vorgeworfen, zu lockere Sitten bezüglich Homosexualität zu pflegen, erscheint es jetzt genau umgekehrt: die eigene Homosexualität wird als Fremdes abgespalten und dem dekadenten Westen in die Schuhe geschoben. Zugleich scheint aber das alte, originär islamisch Konzept des bestrafenswerten Analverkehrs (”liwat”) durchaus überlebt zu haben, auch wenn es freilich in den Homosexualitätsdiskurs eingebettet wurde.
Weitere empfehlenswerte Rezension findet sich auf der website der Zeitschrift “krisis” und auf der Website schwule-seite.de
Und viele weitere (wie jetzt auch wohl bald diese hier(-;) in der Trackbackliste auf Lysis’ Blog.
- So etwa in der Rede des Pausanias, 180 c. ff., der explizit sagt, dass die Knaben- bzw. Männerliebe höher als die “gewöhnliche Liebe” anzusehen sei, weil wer Knaben liebt das Verständigere und Stärkere vorzieht. Die “gewöhnliche Liebe” ist freilich nicht mit heterosexueller Liebe gleichzusetzen, sondern damit sind auch Männer gemeint, die Knaben nur im ihres Körpers und nicht um ihrer Seele willen lieben oder vorpubertäre Knaben zu verführen suchen.[zurück]