Die Bombe und das Erinnern

Als die deutschen Heimatvertriebenenorganisationen das 60-jährige Jubiläum ihrer Charta feierten, sagte Ralph Giordano, die Vertreibung würde in der Charta so dargestellt, als habe sie in einem „historischen Vakuum“ stattgefunden. Dieser Begriff „historisches Vakuum“ trifft jenen verbreiteten Gestus des Erinnerns recht gut, der Kriegsereignisse aus den historischen Ereignissen isoliert und dadurch Schuldfragen und Ursachensuche im besten Falle neutralisiert, im gewöhnlichen verschiebt und verbiegt.

Ein solches Verhältnis prägt auch das Erinnern an die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki. Im nachträglichen Entsetzen über das genozidale Potential dieser Waffe wurde schon jenes Entsetzen über die mit primitivsten Waffen (Hunger, Schläge, Krankheiten, Gas) durchgeführten Massenmorde des Holocaust eher getilgt als erinnert. Die in den folgenden 50 Jahren stattfindenden 2 000 Atomwaffentests (davon ca. 622 oberirdisch) und der Anstieg des weltweiten Arsenals auf möglicherweise 70 000 Atomsprengköpfe sorgten für zusätzliche und  trotz ihrer  Assoziation mit einer gewissen paranoischen Struktur sehr gerechtfertigte Bedrohungsängste, die mit dazu beitrugen, das Grauen des zweiten Weltkrieges in der amerikanischen und europäischen Wahrnehmung verblassen zu lassen. Die Opfer eines perhorreszierten „nuklearen Holocaust“ waren nunmehr „wir alle“ und dieser globale Genozid hatte bereits begonnen: in Hiroshima und Nagasaki.

So konnte man in der Retrospektive der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki als initiale Agression betrachten und darüber vergessen, dass dort ein Krieg beendet wurde. Ein Krieg, der in der öffentlichen Wahrnehmung abseits von exotistischer und ambivalenter Begeisterung für die Kamikaze-Flieger kaum je Beachtung fand. Nie erreichte man ein geschichtliches Bewusstsein davon, wie sehr die japanische Ideologie der deutschen ähnelte und wie gigantisch, mörderisch und genozidal diese Front war. Anstelle von unqualifizierten Co-Referaten verweise ich zu diesem Komplex auf das hervorragende Blog „USA-erklärt“ mit der Beitragsreihe „Der Krieg gegen Japan„.

Und auf den Wikipedia-Artikel über japanische Kriegsverbrechen, der die Zahl der Todesopfer des japanischen rassistischen Raubzuges mit dem Historiker Chalmers Johnson auf 30 Millionen Menschen schätzt. Eingesetzt wurden biologische Waffen, konventionelle Waffen und primitivere Waffen wie Bajonette, deren massenhafter Einsatz ein hohes Maß an individueller Täterschaft und aggressiver Ideologie voraussetzt. Hunger und Durst wurden systematisch gegen Kriegsgefangene eingesetzt, von denen 30 % unter grauenvollen Umständen starben.  Darüber hinaus arbeiteten Japan wie auch Deutschland an einer eigenen Atombombe.

Wenn man sich 2010 der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki erinnert, ist es unmöglich, nicht die Geschichte der nuklearen Aufrüstung, der Strahlenkrankheit und des Grauens, das diese in die Individuen pflanzte mitzudenken. Es sollte aber gleichfalls erwartet werden können, die genozidale Aggression des japanischen Faschismus  zu reflektieren. Dann muss man der amerikanischen Seite ein nahezu ausschließlich militärisches Kalkül zugestehen, das unter dem Vorzeichen stand, einen  für beide Seiten extrem verlustreichen Krieg in einer Machtdemonstration, die sich gegen zwei stark militärisch geprägte Ziele richtete, zu beenden. Bis heute wird die Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki beherrscht von einer Imagination, nach der zwei menschlich erkaltete amerikanische Bomberpiloten  einfach so zwei Massenvernichtungswaffen über zwei friedlichen japanischen Städten abwarfen. Am treffsichersten ist diese Wahrnehmung in der Kapitulationserklärung des japanischen Kaisers vorgeprägt:

„Der Feind hat jüngst eine unmenschliche Waffe eingesetzt und unserem unschuldigen Volk schlimme Wunden zugefügt. Die Verwüstung hat unberechenbare Dimensionen erreicht. Den Krieg unter diesen Umständen fortzusetzen, würde nicht nur zur völligen Vernichtung unserer Nation führen, sondern zur Zerstörung der menschlichen Zivilisation … Deshalb haben wir angeordnet, die gemeinsame Erklärung der Mächte anzunehmen.“

Die, wenn nicht schon im ersten Weltkrieg, in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern und den japanischen Massakern untergegangene Zivilisation wurde auf einmal gerettet durch den japanischen Kaiser in seiner Fürsorge für sein „unschuldiges Volk“, das er wenige Tage zuvor im Konsens mit seiner Armeeführung noch in Millionen opfern lassen wollte, unter anderem mit dem Plan, mit Bambusspeeren bewaffnete Kinder und Frauen im Endkampf auf amerikanische (oder mit dem Kriegseintritt der Sowjetunion auch „kommunistische“) Soldaten zu hetzen. Alle Schuld, alle Täterschaft wurde an die USA übertragen – ein Erfolgsrezept, das sich später als bequeme Umgehung jeder tiefergehenden Beschäftigung mit dem historischen Rahmen globalisierte.

So zog ich im Alter von etwa dreizehn Jahren mit einem halben Dutzend anderer AktivistInnen am Jahrestag der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki mit Mehl geschminkt als Hibakusha-Mime durch eine süddeutsche Fußgängerzone. Ein wütender Amerikaner brüllte uns an: „Pearl Harbor! Pearl Harbor!“ Ich wusste damals nicht einmal, was er mit diesen fremdartigen Worten wohl meinen könnte. Im geschichtlichen Vakuum war Hiroshima nun mal das Opfer eines unwahrscheinlich zynischen Aktes der Amerikaner. Jede historische Rationalisierung dieses Aktes wurde abgewehrt und im Kalten Krieg hatte noch dies sein Recht: Es durfte keine einzige Legitimation mehr geben für den Einsatz einer Atomwaffe, weil dies den Untergang aller in einem dritten Weltkrieg zur Folge gehabt hätte. Das Tabu folgte einer gewissen Logik. Logik ist aber noch nicht Vernunft und daher muss man diese Verdrängungsleistung mit dem chronischen Antiamerikanismus und dem rassistischen und narzisstischen Desinteresse an Asien synchronlesen.

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Drei Literaturempfehlungen:

„Unsere Bombe“. Robert del Tredici. Zweitausendeins, 1988. (Bildband zur Atomwaffenproduktion in den USA)

„Die letzten Glühwürmchen“. Hayo Miyazaki. 1988. Anime. (Melodram im Kriegs-Japan)

„Der kubistische Krieg“. Stephen Kern. In: Kultur & Geschichte – neue Einblicke in eine alte Beziehung. Reclam, 1998. (Artikel über die bis dato beispiellose Fragmentierung von Individuen, Raum und Zeit im Zuge des ersten Weltkrieges)